M. Bohlender: Politische Ökonomie, Polizei, Pauperismus

Titel
Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus


Autor(en)
Bohlender, Matthias
Erschienen
Weilerswist 2007: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cristóbal Rovira Kaltwasser, Berlin

Der Liberalismus ist eine moderne politische Weltanschauung, die insbesondere in Großbritannien im 19. Jahrhundert eine hegemoniale Stellung besaß. Seine Paladine waren Autoren wie Bentham, Locke und Stuart Mill, welche die individuelle Freiheit als normative Grundlage der Gesellschaft definierten. Darüber gibt es eine breite Literatur in den Geschichts- und Sozialwissenschaften.

Die Studie von Matthias Bohlender über die Genese des liberalen Denkens in Großbritannien von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts leistet dennoch Besonderes, weil sie von einer innovativen Prämisse ausgeht: Der Liberalismus müsse als reflexives Prinzip und Methode des politischen Führens und Regierens analysiert werden. Aus dieser Sicht handelt es sich nicht um eine neutrale Weltanschauung. Ganz im Gegenteil. Der Liberalismus besitzt dann eine eigene politische Rationalität, um die Individuen und die Gesellschaft zu einem Modell gewünschter Ordnung führen zu können. Seine Kraft liegt in der Fähigkeit seine Technologien der Macht zu verbergen, so dass er sich dank dem aseptischen Bild der Selbstregulierung der (Markt) Gesellschaft porträtieren lässt.

Warum braucht man allerdings eine historische Betrachtung, um diese Besonderheit des Liberalismus zu verdeutlichen? Die Antwort Bohlenders erscheint sehr plausibel. Durch die geschichtliche Rekonstruktion kann man begreifen, dass der Liberalismus keineswegs eine homogene und geschlossene Utopie ist. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Weltanschauung, die neue Probleme – damals etwa die Expansion der Armut, den Aufstieg der Kriminalität oder die Entstehung massiver Arbeitslosigkeit – bewältigen sollte. Eben deshalb lohnt die Betrachtung des Liberalismus als Abfolge von Metamorphosen, als ein Adaptieren erfolgreicher Wissensformen, Praktiken sowie Ziele und Objekte des Regierens.

Nach Ansicht Bohlenders hat das liberale Denken in Großbritannien von Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts drei solcher Metamorphosen durchlaufen, denen das Buch in drei Teilen folgt. Die erste Metamorphose beruht auf der Entdeckung der Gesellschaft und der Geburt der politischen Ökonomie. Hier wird gezeigt, inwiefern die Diskussion um die Regierbarkeit der Menschen zur Vorstellung sowohl eines sich selbst regulierenden sozialen Raumes (der Marktgesellschaft) als auch zur Formierung einer neuen Wissenschaft (der politischen Ökonomie) führt. Die zweite Metamorphose thematisiert die Armut als eine Herausforderung für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Daher werden an diese Stelle die Experimente zur Lösung des Problems der überschüssigen Bevölkerung analysiert. Zuletzt basiert die dritte Metamorphose auf der liberalen Gouvernementalisierung des Staates, das heißt, der Entstehung neuer Regulierungsmechanismen und Regierungstechnologien, damit sich die Hegemonie des liberalen Projekts konsolidiert werden konnte.

Im Folgenden werde ich mich auf den zweiten Teil des Buches bzw. die zweite Metamorphose des liberalen Denkens konzentrieren, da sie mit besonderer Plastizität darlegt, inwiefern die Debatten zwischen den Vertretern des Liberalismus nicht nur zu einer Rationalisierung der Regierungsausübung beitrugen, sondern auch eine Anpassung an die Regeln der ökonomischen Maximierung mit sich brachten.

Bei der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ging in England ein Gespenst um. Es war allerdings nicht der Kommunismus, der Sozialismus oder der Anarchismus. „Man wird dieses Gespenst den Pauperismus nennen und meint damit eine Armutsbevölkerung, die dem alten Arbeits- und Armenregime zu entgleiten droht, für die aber noch kein neuer Raum, kein neues Regime bereitsteht, mit dieser Bevölkerung umzugehen. Woher kommen die Armen und wie soll man sie regieren? Diese beiden ‚gespenstischen' Fragen werden für die nächsten Jahre im Zentrum der Debatten und Auseinandersetzungen stehen“. (S. 141) Die ökonomische Transformation Großbritanniens ließ eine überschüssige Bevölkerung entstehen, die den Liberalismus herausforderte. Es existierten zwei Lösungswege: Entweder die Armen sterben lassen oder sie nutzbar machen.

Die erste Position vertrat der eher unbekannte Joseph Townsend, obwohl sein Werk erstmals in der Geschichte des sozialen Denkens ein biologisches Modell als Grundlage für die sozioökonomische Leitung der Gesellschaft einführte. In diesem Sinne kann man Townsend als einen Vorreiter des Sozialdarwinismus begreifen. Seiner Ansicht nach löste sich das Problem der Armut nach dem Prinzip der natürlichen Auslese von allein, weil die Gesellschaft ihre eigene Gesetzen zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts besaß. Insofern repräsentierte für ihn das Gespenst des Pauperismus kein wahres Problem. Wie Bohlender zeigt, gab es dafür eine bio-ökonomische Regulation, die sich in der Maxime Laissez faire, Laissez mourir zusammenfassen lässt. Dieses Argument gewann zusätzliches Gewicht durch das Werk von Malthus, der eine spezifische Form indirekter Führung aufzeigte: „Die Armen müssen sich selbst innerhalb einer liberalen Gesellschaft überhaupt erst als freie, moralische Subjekte begreifen; und das heißt: sie müssen sich selbst und ihre Lebensweise frei bzw. selbstverantwortlich regieren und sich zugleich der Regierung der Naturgesetze unterwerfen“. (S. 171)

Die zweite Position ist durch die Erfindung politischer Technologien des Pauperismus gekennzeichnet. Armut wird als ein regelungsbedürftiger Gegenstand definiert, wofür das Polizeiwesen eine grundlegende Rolle spielt. Bemerkenswert ist, dass die britische Polizei in ihrem Ursprung als eine Ordnungsagentur des Staates konzipiert wurde, die sich der umfassenden Sorge um die Wohlfahrt der Bevölkerung anzunehmen hatte. Bohlender stellt dar, inwiefern die Umwandlung des Polizeiwesens zur Disziplinierungsinstitution der Gesellschaft durch Autoren wie Bentham und Colquhoun vermittelt wurde, da sie die Techniken der Registrierung, der Beobachtung und der Informationsoptimierung als Mechanismen der Vorbeugung und Aufdecken der Verbrechen definierten. Auf diese Weise kommt der Polizei die Funktion der Prävention zu. Ihre richtige Positionierung im Raum zur richtigen Zeit schafft ein Klima der Sicherheit, das Ein- und Übergriffe von vornherein unterbinden und vermeiden soll.

Das Musterbeispiel der institutionellen Ausprägung liberalen Regierungsdenkens im Hinblick auf die Armen ist die Herausbildung des Arbeitshauses: Die Idee, durch architektonische Anordnungen und technische Vorrichtungen eine bestimmte Anzahl von Menschen in einem geschlossenen Gebäude zu überwachen und zu reformieren. Foucaults Panopticon wird zur Wahrheit. Nach Ansicht Bohlenders ist damit ein Scheitelpunkt der Suchbewegungen innerhalb des liberalen Regierungsdenkens erreicht. Ein neues Gesellschaftsmodell wird entworfen, in der das wohl geordnete Arbeitshaus als sozial-moralischer Abschreckungsmechanismus für alle arbeitsfähigen Armen fungieren soll, die sich der neuen Lebensweise des unabhängigen Lohnarbeiters zu entziehen versuchen.

Diese kursorische Behandlung der zweiten Metamorphose des liberalen Regierungsdenkens, die sich in der Behandlung des Problems des Regierens der Armen charakterisieren lässt, versucht die Aktualität von Bohlenders Studie zu unterstreichen. Heute, wo die soziale Ungleichheit erneut anwächst und der globale Kapitalismus sich ohne Schranken auszudehnen scheint, gewinnt die soziale Frage an Brisanz, so dass etliche Parallelen mit der Genese des liberalen Denkens in Großbritannien gefunden werden können. In der Tat symbolisiert die gegenwärtige Sorge in Deutschland auf Grund der Arbeitslosigkeit eine neue Problematisierung einer alten Problematik: „Wie und auf welche Weise muss ein Staat geführt und regiert werden, der auf einer (Markt) Gesellschaft und ihrer (lohnarbeitszentrierten) Armut aufruht?“ (S. 369) Es ist gerade diese Problematik, die im Mittelpunkt des Buches steht und dessen Aktualität ausmacht.

Zum Schluss scheint mir eine letzte Bemerkung notwendig, um das kritische Potential der Studie zu umreißen, das Bohlender entweder nicht explizit thematisiert oder aber übersehen zu haben scheint. Die ‚Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens’ offerieren ein Analyseraster, um die Regierungsintensivierung und die Verwandlungsfähigkeit des Liberalismus zu vergegenwärtigen und in diesem Sinne bahnt es den Weg für die mögliche Theoretisierung anderer historischen Fällen der Expansion moderner Techniken des Regierens. Bohlenders Buch kann daher in einem Satz als eine gelungene Kombination zwischen Foucaults heuristischen Gerüst und einer Ideengeschichte ausgezeichneter Interpreten des Liberalismus wie Bentham, Malthus und Ricardo resümiert werden, die eine originelle politische Theorie des modernen Regierens generiert und insofern als Muster für die Analyse anderer historischen Realitäten dient.